Archetypen urbaner Architektur
Peter Lang - Kulturjournal Regensburg

Kein Baum, kein Busch, kein Gras. Ja selbst von Himmel findet sich in Alexander Rosols Bildwelten allenfalls eine Andeutung. Keine Wolkenformationen. Die Lichtquellen, die seine urbanen Welten beleuchten, sind nicht Sonne oder Mond, sondern Leuchtstoffröhren und Flutlicht. Nicht einmal den Nebel und den Dampf in den Straßenschluchten und in den Industrieanlagen darf  die Natur selbst beisteuern. Aluminium, Beton, Glas, Stahl. Obwohl Rosol ausschließlich Menschengemachtes zeigt, Zivilisation, verzichtet er auf jegliche Personalstaffage. Es reicht, wenn wir das Produkt menschlicher Errungenschaften sehen. Es reicht, wenn uns Rosol den Dunst aus Abluftröhren zeigt. Das gibt uns die Gewissheit, dass der Mensch anwesend ist. Oder anwesend war.

Rosols Metier ist die Darstellung von urbaner Architektur und Räumlichkeit. Die Abbildung von Hochbauten ist in der ägyptischen Antike erstmals dokumentiert. Die Darstellung von Architektur in der Malerei (und allen anderen Genres der bildenden Kunst) erlaubt eine Einordnung des Dargestellten. Architektur prägt schließlich entscheidend den menschlichen Alltag. Palast, armselige Hütte, gotische Kirchenruine, Straßenansichten - Architektur als Gegenstand der Malerei begegnet uns aus den unterschiedlichsten Gründen. Als repräsentative Demonstration, als dokumentarische Manifestation und als metaphorisches Bild. Architekturmalerei ist in den seltensten Fällen bloßes Abbild, Abbildung, sie erlaubt eine Verortung, einen Standpunkt und eine zeitliche Einordnung.

Rosol zeigt Ausschnitte der Gegenwart. Bauten und Gebäudekomplexe, die unverkennbar dem 20. und 21. Jahrhundert zuzuordnen sind. Hochstrebende Industrieanlagen und Hochhäuser, die in ihrer vergleichsweise einfachen Konstruktion zu architektonischen Archetypen des Urbanen geworden sind: Gitterroste aus Stahlblech, Kranausleger, Glasfassaden, Abluftröhren aus Edelstahl, Ebenen aus Beton, Verkleidungen aus Aluminium, exakt gegliederte Fronten, schlicht und schnörkellos. Genormte Architektur, die rasch und billig hochgezogen wird, die schnell und günstig den Hunger nach Raum stillen, den Platzbedarf befriedigen soll. Seelenlose  Stadtviertel, die aus dem Nichts hochgezogen werden, denen aber die Seele fehlt. Austauschbare Bauten, die irgendwo und überall so stehen, und immer im Nirgendwo. Orte ohne Seele, Baumasse ohne Gesicht.

Alexander Rosol aber wertet nicht. Wohl legt er seinen Finger in die Wunde, und gerade jetzt müssen seine Bilder in seiner Heimatstadt Regensburg, die aktuell von einem gigantischen Bauboom überzogen wird, eine spezielle Wahrnehmung erfahren. Ob der Künstler eine Kritik formuliert, mag jeder Betrachter individuell für sich entscheiden. Die Möglichkeit dazu belässt uns Rosol. Die Bilder der Serie „Bodennullpunkt“ sagen es in aller Deutlichkeit allein durch ihren Titel, der - wie kurios - im Englischen uns so viel vertrauter wirkt: „Ground Zero“. Und neues Leben blüht aus den Ruinen …

In ihrer Ausschnitthaftigkeit klagen Rosols urbane Momentaufnahmen aber keineswegs die Monotonie des seriellen Bauens an, sie thematisieren nicht vordergründig anonyme Schlafburgen oder brachiale Fertigungsanalgen, sondern zeigen vielmehr die Faszination, ja die Ästhetik der Perspektive und Raumordnung. Was Rosol als bildgestalterisches Moment vorrangig interessiert, ist der Fluchtpunkt und die Durchdringung des (Bild-) Raumes. Sich nach hinten verjüngende Flächen, nach oben bis hin zur Wahrnehmungsgrenze verschwindende Linien, als würden sich die dargestellten Objekte eines Bildes so verhalten, wie sie es auch unter Sehbedingungen in der Wirklichkeit tun würden.
Oft sind in einem Bild mehrere Fluchtpunkte gesetzt, diese Freiheit der Panoptik gestattet sich der Künstler. Ein Kniff, der deutlich macht: Nicht das Bild karikiert die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit erscheint uns wie ein befremdliches Zerrbild.

Alexanders Rosols künstlerische Strategie ist die des Bildcomposings. Den Anfang macht die Motivsuche mit der Kamera. In Städten und Industriearealen, wohin es den Künstler gerade verschlägt. Ein Schlot von da, eine Fensterfront von dort, ein Antennenwald, Streben, Eisenträger - bis zu 230 Ausschnitte aus dem schier inkommensurablen Konvolut an Fotos finden in einem Kunstwerk Verwendung. Versatzstücke werden arrangiert zu Stadtansichten, die es so nicht gibt und die dennoch in ihrer Ausgestaltung überall zu finden sind. Archetypen urbaner Architektur in einer fiktiven Wirklichkeit. Alle Farbigkeit wird reduziert. Die fertig kompilierte Ansicht wird auf Bildträger wie Leinwand gedruckt. Auf Keilrahmen aufgezogen, erfährt die Architekturmalerei ihr Finish mit Sprühlack und Ölfarbe.
Fast scheint es, als wolle Rosol die glatten Flächen und die schnurgeraden Linien in ihrer Härte, in ihrer technoiden Makellosigkeit mit seinem Farbauftrag brechen. Der Pinselduktus hastig, fast flüchtig. Den Farbflüssigkeiten belässt der Künstler bis zu einem mal mehr, mal minder ausgeprägten Grad ihre Eigendynamik. Verwischen, Verlaufen, Klumpen - das Verhalten der Farbe auf dem gedruckten Bildträger wird in Kauf genommen und einkalkuliert. Viel Blau, kalte Töne, pastoses Grün, Türkis, Abstufungen von Grau. Fahl setzt Gelb einen Kontrapunkt, Rosa- und Orangetöne lassen die Anmutung einer Morgen- oder Abendstimmung aufkommen. Durch den Farbauftrag entsteht eine Unschärfe, die Unorte, Megacitys und suburbane Industriestandorte in faszinierende Räumlichkeiten verwandelt. Der malerische Gestus ist mehr als nur ein analoger Anstrich, er versöhnt mit den unerbittlichen Geraden, den glatten Flächen und seriellen Strukturen. Mit dem Digitalen.

Fotografie und Malerei bedingen sich bei Rosol. Keinem Medium wird eine Vorrangstellung eingeräumt, beides ist untrennbar verbunden, er duldet sie nur im gleichberechtigten Zusammenspiel, in einer wohl ausgewogenen Balance.
Bemerkenswert sind Rosols Dioramen in Form von Lichtobjekten: Diese zeigen seine charakteristischen Archetypen der Industriearchitektur auf Plexiglas gedruckt und in ausrangierten Baustellen-Stromverteilerkästen angeordnet. Wie die Kulissen eines Bühnenbilds. Die Tiefenwirkung seiner Bildcomposings potenziert sich hier, die authentischen industriellen Gehäuse tragen sehr dazu bei, den Bildgehalt in idealer Weiser zu umrahmen und zu fassen.
Rosols Architekturfragmente stellen die Frage nach dem Menschen und seinem Stand und seinem Wert in einer Welt, die bestimmt von Fortschrittsglauben und Digitalisierung ist. Für die Herstellung von Mobilfunkgeräten schürfen Kinder in afrikanischen Minen nach seltenen Erden. Von Minenerträgen werden Bürgerkriege finanziert. Der CO2-Ausstoß steigt weiter ungebremst. Wie klimaverträglich sind unsere Produktionsprozesse? Wie werden wir morgen und übermorgen leben, wohnen und arbeiten, wenn bereits jetzt schon Sand ein rares Gut geworden ist? Wann und wie meistern wir die Energiewende? Diese und ähnliche Fragen wirft Rosol mit seinen Bildwelten auf. Er fragt nach unserer Zukunft und nach unserer Zukunftsfähigkeit.

Als wolle uns Alexander Rosol warnen oder mahnen, geht er mit bestem Beispiel voran. Er ist bestrebt, bei all seinem künstlerischen Arbeiten nachhaltig zu produzieren, mit Methoden des Re- und des Upcyclings. Und möglichst ohne jeden Abfall. Ein Output dieser Philosophie sind äußerst aparte Cut-outs, die Negativformen der Malereien und der Objektkunst, wenn man so will, zusammengefasst in einem Kompendium an Blättern. Was Rosols Malerei ausspart, zeigen diese Bögen. Die Archetypen der urbanen Architektur aber sind hier als ein weißer „Scherenschnitt“ zu sehen. Das Fehlen der Motive, die in einem langwierigen und unglaublich Geduld raubenden Prozess am Monitor für ein „Original-Bild“ ausgeschnitten werden, lässt diese um so signifikanter hervortreten. Auf den ersten Blick ist sehen, was fehlt. So wie in Rosols Bildcomposings und Objekten spätestens auf den zweiten Blick das Fehlen des Menschen in den Sinn kommt.

Seit 2008 leben mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, Tendenz steigend. Das Jahrtausend der Städte ist angebrochen, eine Zeit, die zunehmend neues Raumdenken erfordert. Alexander Rosols Bildwelten sind dazu angetan, diesen Denkprozess zu befördern.